Was meint eigentlich „drohende seelische Behinderung“? – Sekundärsymptomatik von Lernstörungen
Dieser Beitrag behandelt die sogenannten „Sekundärsymptome“ von Lernstörungen. Dabei ist es recht unerheblich, ob das betroffene Kind eine LRS oder eine Rechenschwäche hat. Die Auswirkungen auf seine kindliche Psyche sind in beiden Fällen recht ähnlich.
Lassen Sie uns zum Einstieg mit einer Geschichte beginnen.
Versetzen Sie sich in folgende Lage:
Sie bekommen zum Geburtstag von all Ihren Freuden einen Gutschein für einen Paartanzkurs geschenkt. Alle schwärmen davon, wie sehr so ein Kurs ihr Leben bereichert hat und wie sehr sich daran zeigt, wie gut es in der Beziehung zu ihren langjährigen Partnern läuft.
Gespannt gehen Sie gemeinsam mit Ihrem Partner/ Ihrer Partnerin zu dem ersten Abend.
11 weitere Paare lauschen den Begrüßungsworten des Tanzlehrers, bevor es dann mit einigen „ganz einfachen“ Übungen losgeht. Die Musik läuft und alle Paare schweben durch den Tanzraum. Nur Sie treten Ihrem Partner/Partnerin fortwährend auf die Füße, können den Takt der Musik nicht nachempfinden und der Tanzlehrer verbringt mit einem tadelnden Blick die meiste Zeit des Abends bei Ihnen. Ihr Partner ist nach der ersten halben Stunde leicht genervt und auch die anderen Paare schauen immer wieder zu Ihnen rüber.
Mit welchen Gefühlen und Gedanken gehen Sie in die nächste Stunde? – Zumindest mal haben Sie wahrgenommen, irgendwas stimmt da nicht so ganz, die anderen können offenbar spielend etwas lernen, das Ihnen selbst schwer fällt. Die zweite Stunde verläuft ganz ähnlich. Der Tanzlehrer brummt was von „zwei linken Füßen“, Ihr Partner/Ihre Partnerin schaut nach Mitgefühl heischend die anderen Paare an. In Ihnen reift die Überzeugung: „Ich kann das nicht!“. Sie geben sich auch in den nächsten Stunden die größte Mühe, nur haben Sie mittlerweile die ersten Wissenslücken und es kostet Sie eine große Menge Konzentration, den neuen Anweisungen Folge zu leisten. Ihre Anstrengung steht dabei leider in keinem Verhältnis zum Ergebnis. Auch die anderen scheinen Sie schon als hoffnungslosen Fall abgeschrieben zu haben. Nicht nur, dass Sie offenbar das Talent zum Tanzen nicht in die Wiege gelegt bekommen haben. Sagt das jetzt auch noch etwas über Ihre Beziehung aus? Müssen Sie nach den Worten Ihrer Freunde also auch an Ihrer Ehe zweifeln, wenn es beim Tanzen nicht funktioniert?
Spätestens an dieser Stelle werden Sie, je nach Veranlagung, versuchen Ihre negativen Gefühle zu vermeiden, Sie bekommen Kopfschmerzen, ziehen sich zurück oder fangen an, alles ins Lächerliche zu ziehen. – Sie nehmen Ihre negativen Glaubenssätze also an und versuchen durch Kompensationshandlungen ihr verunsichertes Ich etwas aufzurichten.
Nach Stunde 9 landen Sie in der Resignation. Es bringt alles nichts. Sie sind einfach nicht in der Lage, tanzen zu lernen. Und werden dementsprechend auch nicht mehr die nötige Motivation aufbringen, den Anweisungen länger zu folgen.
Können Sie wirklich nicht tanzen lernen? – Soweit unser kleines Gedankenexperiment.
Und nun versetzen Sie sich in die Lage von Paul.
Paul ist in der ersten Klasse und Paul hat eine Differenzierungsschwäche. Ihm fällt es schwerer als anderen Kindern, ähnlich aussehende Buchstaben, wie z.B. ein b und ein d, zu unterscheiden. Um korrekt schreiben und lesen zu können ist dieser kleine Unterschied aber von eklatanter Bedeutung. Paul ist in die Schule gekommen, mit dem Wissen darüber, dass „Jetzt der Ernst des Lebens“ beginnt und seine Leistungen darüber entscheiden, was aus ihm in Zukunft wird. Was meinen Sie, wie geht es Paul, wenn er realisiert, dass irgendwas hier nicht so läuft, wie es von ihm erwartet wird? Die anderen Kinder können etwas, das ihm partout nicht gelingen will. Er wird auf erste Unverständnisreaktionen stoßen und auch auf das ein oder andere unüberlegte, „Du bist einfach zu unkonzentriert“ oder sogar indirekte Zweifel an seiner Intelligenz spüren.
Wie geht es dann weiter?
Paul wird zunächst versuchen, eine Erklärung dafür zu finden, warum er „anders“ ist. Wahrscheinlich greift er auf etwas zurück, das ihm aus seiner Umwelt angeboten wird, z.B. „Ich kann mich nicht konzentrieren.“ Seine Überzeugung wird sich lernhemmend auf weitere Lerninhalte auswirken. Erfolge bleiben aus. Pauls Selbstwert wird zunehmend instabiler. Er wird versuchen, durch Vermeidung diese negativen Gefühle zu minimieren. Gleichzeitig kann er versuchen, den ausbleibenden Erfolg zu kompensieren. Er kann dabei sozial erwünschte Formen finden, und je nach Neigung, ein Ass in Mathe oder Sport werden. Oder er sucht die Anerkennung der Mitschüler durch weniger sozial erwünschte Formen: er wird zum Klassenkasper.
Egal wie er handelt: neben dem Leistungsdefizit zeigen sich zunehmend Auffälligkeiten in seinem Sozialverhalten. Er kränkelt oft und will nicht zur Schule gehen. Er fällt in der Klasse durch unangepasstes Verhalten auf. Die Hausaufgaben sind nur unter größten Anstrengungen zu bewältigen. Der Familiensegen hängt dabei von Tag zu Tag etwas schiefer.
In der Folge werden Pauls Lernlücken größer. Das Problem ist mittlerweile nicht mehr seine Differenzierungsschwäche. Je angstbesetzter eine Lernsituation ist, desto weniger des Lernstoffes bleibt nachhaltig im Gehirn gespeichert. Blockierungen sind die Folge. Paul wird nicht mehr an seine Lernfähigkeiten glauben und nur mehr weitere Misserfolge erwarten. Ab diesem Punkt hat Paul eine stabile Lern- und Leistungsstörung ausgeprägt.
Die seelische Behinderung droht
Schauen Sie an den Anfang zurück! Hier war Paul neugierig, motiviert und hatte eine Differenzierungsschwäche. Jetzt ist aus ihm ein angespannter, unausgeglichener und vielleicht sozialauffälliger Junge geworden, der am liebsten gar nicht in die Schule gehen möchte und große Schwierigkeiten hat, den Unterrichtsstoff zu bewältigen. An dieser Stelle wird auch von einer seelischen Behinderung oder einer drohenden seelischen Behinderung gesprochen.
Diesen Teufelskreis struktureller Lern- und Leistungsstörungen erleben viele Kinder mit (unerkannten) Lernstörungen wie einer LRS oder Dyskalkulie.
Hierbei von „Sekundärsymptomen“ zu sprechen wird der Komplexität der psychischen Zusammenhänge nur unzureichend gerecht. Hirnphysiologisch ist bereits lange belegt, dass die emotionale, soziale und kognitive Entwicklung untrennbar miteinander verbunden sind.
Mögliche Symptome
Die Liste möglicher Symptome ist dabei lang. Grundsätzlich zeigt sich bei Kindern mit unerkannten Lernschwächen eine angstbesetzte Beziehung zu Lernsituationen. Sie leiden unter Minderwertigkeitsgefühlen und Versagensängsten, die sie auf unterschiedliche Art und Weise versuchen, abzumildern. Meistens spiegeln sich diese Kompensationsversuche in ihrem Sozialverhalten. Die Beziehung zu den Eltern ist aufgrund der häuslichen Übe-Situation und der unerfüllten Erwartungen oft angespannt. Die Schule, oder mindestens das schwierige Unterrichtsfach, ist mit stark negativen Gefühlen verknüpft. Auf der körperlichen Ebene können sich Schlafprobleme zeigen, auffälliges Essverhalten, häufige Kopf- oder Bauchschmerzen oder eine generell hohe Infektanfälligkeit.
Diagnose “seelische Behinderung”
Halten diese Symptome länger als eine halbes Jahr an, können Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten oder speziell ausgebildete Kinderärzte die Diagnose „seelische Behinderung“ oder von „seelischer Behinderung bedroht“ stellen.
Wichtig ist: Nicht jedes Kind entwickelt derart starke Symptome. Einige zeigen „nur“ Symptome auf der körperlichen Ebene, andere sind stark sozialauffällig, wieder andere können ihre Schwierigkeiten durch ein geliebtes Hobby auffangen. Wichtig ist für alle Kinder, dass nahestehende Bezugspersonen ihre Not wahrnehmen und „den richtigen Riecher“ haben, das Vorliegen einer Lernstörung testen zu lassen.
Wie geht es dann weiter?
So wie die Schwierigkeiten in dem Gesamtgefüge von Kind – Eltern – Schule entstanden sind, so können sie auch nur auf diesem Weg wieder gelöst werden. Zu einer guten und nachhaltig wirksamen Therapie gehört neben individuell ausgerichteten Schreib- oder Rechenübungen die Unterstützung der kindlichen Psyche. Erste Erfolgserlebnisse helfen wieder Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln und das eigene Tun als selbstwirksam zu erleben. Dabei helfen z.B. Motivations- und Wahrnehmungsübungen ebenso wie die Anerkennung von Bewältigungsversuchen und kleinen Fortschritten.
Mit der Diagnose „seelische Behinderung“ oder von „seelischer Behinderung bedroht“, gibt es über die Jugendämter die Möglichkeit, eine Förderung für eine derartige Therapie zu erhalten. Die Grundlage dafür bildet der §35a im Sozialgesetzbuch, Kinder- und Jugendhilfegesetz. Dazu muss zum einen das auffällige Verhalten des Kindes seit mehr als sechs Monaten von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und zum anderen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beeinträchtigt sein.
Für Ihren Tanzkurs würde das bedeuten: Sie bekommen Unterstützung! Sie brauchen weder an sich selbst noch an Ihrer Ehe zu zweifeln. Allein schwierig ist die Koordination Ihrer Füße. Vielleicht brauchen Sie eher einen Walzer- als einen Tangokurs. Und einen Tanzlehrer, der mehr Erfahrung und Geduld für spezielle Fälle wie Sie mitbringt.
Ich hoffe, dieser Beitrag konnte Ihnen ein Gespür dafür vermitteln, wie es Kindern mit einer (unerkannten) Lernstörung ergehen kann und welche Belastungen sie ausgesetzt sein können, wenn es mit dem Erwerb grundlegender Fertigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen nicht wie erwartet funktioniert.
Wünschen wir diesen Kindern aufmerksame Erwachsene mit dem „richtigen Riecher“!
Es grüßt herzlich,
Ihre Jennifer Bubolz (September 2015)
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