Wie funktioniert das eigentlich mit dem Schreiben und Rechnen? Und was hat das alles mit Teilleistungen zu tun?

 

Im Zusammenhang mit Lernstörungen fällt oft der Begriff der Teilleistungsschwäche. Wenn Sie sich mit dem ganzen Thema von Legasthenie über Dyskalkulie bis hin zu allgemeinen Lernschwächen nicht professionell beschäftigen, stolpern Sie gewiss auch erstmal darüber – eine Schwäche in einer Teilleistung? Welche Teilleistungen gibt es denn? Und was hat das mit Lesen, Schreiben und Rechnen zu tun?

Dieser Beitrag versucht diesen Begriffsdschungel etwas zu lichten und die faszinierende Welt der Teilleistungen für die Fähigkeit Lesen, Schreiben und Rechnen zu erlernen, näher zu beleuchten.

Teilleistungen beziehen sich auf ganz basale Fähigkeiten in unserem Wahrnehmungsbereich und damit in unserem Gehirn. Um z.B. diese Wörter lesen und dann auch verstehen zu können, laufen genau in diesem Moment viele verschiedene informationsverarbeitende Prozesse in Ihrem Gehirn ab, die alle aufeinander aufbauen. Ähnlich wie bei dem Bau einer Brücke. Wenn ein Pfeiler fehlt oder weniger stabil ist, so erreichen Sie das gegenüberliegende Ufer nicht oder werden dabei sehr nass.

So geht es unseren Kindern mit einer LRS oder Dyskalkulie häufig. Sie weisen in ein, zwei oder auch drei der benötigten Teilleistungen Schwächen auf und gelangen somit schlechter ans Ziel, also dem korrekt geschriebenen oder gelesenem Wort oder der richtigen Rechenlösung.

Teilleistungsstörungen sind nicht zu verwechseln mit einer Legasthenie oder Dyskalkulie an sich. Sie können jeweils eine von mehreren Ursachen (Beitrag zu Ursachen LRS und Ursachen Dyskalkulie) sein, dass sich diese ausbilden.

Im Folgenden schauen wir uns genauer an, welche Brückenpfeiler wir benötigen, um gesprochene Wörter richtig zu schreiben oder eine Rechenaufgabe zu lösen.

Der lange Weg vom gehörten Wort zum Wort auf dem Papier

Stellen wir uns folgende Situation vor. Emma sitzt im Deutschunterricht, Klasse zwei. Die Lehrerin diktiert eine Geschichte, die alle Kinder konzentriert in ihre Hefte schreiben. Nun schauen wir doch mal, was in ihrem Kopf dabei so vor sich geht.

Damit Emma den diktierten Satz fehlerfrei in ihr Heft schreiben kann, muss sie zunächst korrekt hören, was die Lehrerin sagt. Dabei ist die auditive Aufmerksamkeit ausschlaggebend. Hier kommt es darauf an, dass Emma sich darauf konzentrieren kann, was die Lehrerin sagt und nicht ihre Sitznachbarin. Oder ob gerade ein Zug vorbeifährt. Oder vor dem Klassenzimmer eine Gruppe zum Sport eilt. Das hat funktioniert! Emma hat den Satz aus all den anderen Geräuschen herausgefiltert. Nun geht es darum, diesen Satz auch im Gedächtnis zu behalten. Dafür benötigt sie die Teilleistung des auditiven Gedächtnisses. Erst wenn ihr das gelungen ist, kann sie sich darauf konzentrieren aus dem gehörten Satz einzelne Laute herauszuhören (mit Hilfe der auditiven Gliederung und Analyse). Im nächsten Schritt kommt es darauf an, die einzelnen Laute zu unterscheiden. Emma darf also den Unterschied zwischen ähnlich klingenden Lauten wie einem o und einem u, d und p, langen und kurzen Vokalen, u.ä. nicht verwechseln (Teilleistung der auditiven Differenzierung).

So weit, so gut. Emma hat nun alles gehört, sich gemerkt und die einzelnen Laute korrekt voneinander unterschieden. Nun geht es darum, das Gehörte in Schriftsprache zu übersetzen. Wie sieht das, was sie gehört hat, auf dem Papier aus? Im besten Fall ist diese Information in ihrem visuellen Gedächtnis abgespeichert und kann hierüber abgerufen werden. Hier gilt: Emma muss es fertig bringen, in ihrem Gedächtnis ähnlich aussehende Buchstaben wie b und d oder n und m voneinander zu unterscheiden (visuelle Differenzierung). Hierbei spielt auch die Raumorientierung eine Rolle, damit ein b kein p ist, das Kopfstand macht. Damit Emma eine Sinneswahrnehmung (das Hören von Lauten) in Verbindung bringen kann zu einer anderen Sinneswahrnehmung (dem Sehen der Buchstabengestalt), benötigt sie die Teilleistung der Intermodalität.

Nun hat sie das H in Haus richtig gehört und auch die entsprechende Buchstabengestalt dazu in ihrem Kopf. Als nächstes muss es gelingen, dieses H auch auf das Papier zu bringen. Dazu muss das Bild des Buchstaben mit einer Schreibbewegung koordiniert werden. Für diesen Vorgang muss sie auf ihre taktil-kinästhetische Teilleistung zurückgreifen. Um den Buchstaben nicht ganz ans Ende der Seite zu schreiben, sondern genau dort hin, wo auch schon die anderen Wörter stehen, greift Emma nochmals auf ihre Raumorientierung zurück. Um nun bei so vielen Wörtern und Sätzen die Reihenfolge nicht aus den Augen zu verlieren und tatsächlich genau die Buchstaben und die Wörter hintereinander zu schreiben, die die Lehrerin vorne diktiert, benötigt Emma auch noch die Teilleistung der Serialität. Sie hilft ihr dabei, die richtige Reihenfolge zu hören, im Gedächtnis zu behalten und mit Hilfe all der anderen benötigten Teilleistungen, auf das Papier zu bringen.

All die hier benannten Teilleistungen bilden unsere Brückenpfeiler, um vom gehörten Wort zum richtig geschriebenen Wort auf dem Papier zu gelangen.

Kinder mit einer Legasthenie weisen oftmals eine Teilleistungsschwäche in mindestens einem dieser Bereiche auf. Wenn Emma nun Schwierigkeiten mit der auditiven Differenzierung hat, dann kann sie das Wort aus all den Nebengeräuschen heraushören, sich merken und in die einzelnen Laute zerlegen. Nur diese Laute dann korrekt auseinander zu halten, wird ihr nur mit Mühe gelingen. Und in dem Moment, wo sie für diesen Teilschritt länger benötigt als der Rest der Klasse, kommt sie automatisch mit dem weiteren Diktat nur mehr schwer mit und ihr Text wird am Ende vor Fehlern wimmeln.

5 • 7 + 7 = 42, oder doch 24 oder doch eher 70? – Wege zur richtigen Lösung

Auf ganz ähnliche Teilleistungen muss das Gehirn zurückgreifen, wenn es darum geht, eine Rechenaufgabe richtig zu lösen. Schauen wir uns hierfür einmal Hannes im Mathematikunterricht an. An der Tafel steht die Aufgabe 5 • 7 + 7=

Um diese Aufgabe zu lösen, muss Hannes zunächst einmal erkennen, welche Zahlen an der Tafel stehen und die kleinen aber feinen Unterschiede zwischen einem Pluszeichen (+) und einem Minuszeichen (–) oder zwischen einem Malzeichen (•) und einem Geteiltzeichen (:) zu unterscheiden. Um Aufgaben des Einmaleins lösen zu können, greift er auf sein Gedächtnis zurück, indem die Lösungen gespeichert sind. Mithilfe der Serialität weiß Hannes, dass Punktrechnung vor Strichrechnung gilt und er somit erst multipliziert, bevor er addiert. Hannes auditives Gedächtnis speichert das Zwischenergebnis, von dem aus die Rechnung fortgesetzt wird.
In Zahlenräumen denken zu können, setzt eine altersentsprechend entwickelte Raumorientierung voraus. Ohne diese bleibt eine Zahl eine Zahl ohne die Vorstellung der damit verbundenen Menge. Die intermodale Kodierung hilft Hannes dabei, eine Verbindung herzustellen zwischen der gehörten „Sieben“, der damit verbundenen Menge (von z.B. sieben Brückenpfeilern) und dem Zahlenausdruck 7. Diese Fähigkeit braucht Hannes auch als nächstes, um das errechnete Ergebnis aus dem Kopf als visuelle Zahl auf das Papier zu schreiben. Ebenso wie beim Schreibprozess braucht es hierfür die taktil-kinästhetische Teilleistung für die Stiftführung als auch abermals die Raumorientierung. Nur so landet das Ergebnis auch hinter dem dazugehörigen =-Zeichen.

Stellen wir uns nun weiter vor, dass Hannes unter einer Teilleistungsschwäche in der Serialität leidet. Dann könnte sein Ergebnis für 5 • 7 + 7 = 70 sein. Er hält sich nicht an die gesetzte Reihenfolge (Punkt- vor Strichrechnung) der Rechenschritte. Oder er rechnet 5 • 7 + 7 = 24. Er verdreht die Serie der gesprochenen Ziffern, so wird aus einer 42 eine 24.

Teilleistungsschwäche und ihre Auswirkungen auf der Verhaltensebene

Teilleistungsschwächen zeigen sich nicht erst, wenn es in der Schule mit dem Lernen nicht funktioniert. Oftmals können auf der Verhaltensebene schon viel früher Auffälligkeiten beobachtet werden. Emma mit ihrer unvollständig ausgebildeten auditiven Differenzierung könnte z.B. eine undeutliche Aussprache haben, weil sie die einzelnen Laute nicht deutlich genug voneinander unterscheiden kann. Auch die Sprachmelodie, ob eine Aufforderung also besonders dringlich ist oder es sich lediglich um eine Mitteilung handelt, kann sie mitunter schwer auseinander halten. Dadurch reagiert sie verzögert oder in einer anderen Weise als es von ihr erwartet wird.
Hannes´ Schwäche der Serialität könnte dazu führen, dass er z.B. anfängt sein Zimmer aufzuräumen. Nach der dritten Kiste aber den Faden verliert und anfängt, mit seinen Autos zu spielen. Oder die Hausaufgaben mittendrin unterbricht, da für ihn die Serie „Hausaufgaben machen“ abgeschlossen ist.

Für eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem Thema empfiehlt sich die Lektüre von Brigitte Sindelar (2008), die auf sehr anschauliche Weise die komplexen Zusammenhänge von Teilleistungsschwächen und Lernen erklärt.

Dieser Beitrag hat Ihnen hoffentlich einen ersten Einblick darin vermittelt, welche Schritte daran beteiligt sind, wenn Kinder Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Kinder, die von einer Teilleistungsschwäche betroffen sind, brauchen zunächst einmal unser volles Verständnis und die Wertschätzung für ihre Art, die Welt wahrzunehmen. Mit einer gezielten Förderung können die meisten Schwächen gut behoben werden und das Lesen, Schreiben oder Rechnen erlernt werden.

Es grüßt herzlich,

Ihre Jennifer Bubolz (September 2015)

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