Diagnostik einer Rechenschwäche

 

Wenn Sie diesen Beitrag zur Diagnostik einer Rechenschwäche (Dyskalkulie) lesen, sind Sie vermutlich in der ein oder anderen Weise persönlich betroffen: Vielleicht vermuten Sie als Mutter oder Vater, Ihr Kind könne an einer Rechenschwäche leiden? Oder fällt Ihnen als Lehrkraft bei einer Schülerin oder einem Schüler immer wieder auf, dass sie/er beim Rechnen einfach nicht die gleichen Fortschritte wie die Klassenkameraden macht?

Es lohnt sich für Sie, diesen Beitrag weiter zu lesen, wenn Sie die Frage umtreibt, wie man eine Rechenschwäche diagnostizieren kann. Wichtig zu wissen ist: Nicht jedes Kind, das Schwierigkeiten beim Rechnen hat, leidet unter einer Rechenschwäche (Dyskalkulie).

Um zu verstehen, welche Tests und Verfahren zu einer Dyskalkulie-Diagnostik gehören, müssen wir daher wissen, was eine Dyskalkulie von anderen Schwierigkeiten im Rechnen unterscheidet.

Eine Dyskalkulie hat nichts mit Dummheit zu tun.

In der ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird definiert, dass die Rechenstörung „nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung […] erklärbar ist“. Daher gehört zu einer Dyskalkulie-Diagnostik, die sich an der ICD-10 orientiert, immer auch ein Intelligenztest, in dem die Minderbegabung eines Kindes ausgeschlossen wird, d. h. der IQ muss über 70 liegen.
In der Praxis ist es jedoch so, dass viele Intelligenztests (z. B. der HAWIK-IV, der AID 3 oder der K-ABC) Aufgaben beinhalten, die ein mathematisches Verständnis voraussetzen. Kinder mit einer Rechenschwäche schneiden daher zwangsläufig schlechter ab, der IQ wird quasi „gedrückt“. Dies ist ein Grund dafür, warum die Durchführung von IQ-Tests zur Feststellung einer Dyskalkulie – oder auch Legasthenie – umstritten ist.

Schlechte Noten sind kein „Beweis“ für eine Dyskalkulie.

Weiter heißt es in der ICD-10, dass die Rechenleistung eines Kindes „eindeutig unterhalb des Niveaus liegen [muss], welches aufgrund des Alters, der allgemeinen Intelligenz und der Schulklasse zu erwarten ist.“
Um dies festzustellen, muss bei dem Kind ein standardisierter Rechentest durchgeführt werden. Schlechte Noten oder Einzelbeobachtungen wie „sie zählt immer noch mit den Fingern“ reichen nicht aus, um einem Kind eine Dyskalkulie zu attestieren.

Es gibt zahlreiche Rechentests, die entweder als Einzel- oder als Gruppentest durchgeführt werden. Beispiele für Rechentests sind die DEMAT-Reihe, der Heidelberger Rechentest (HRT) für die Klassen 1 bis 4 oder der ZAREKI-R.
In standardisierten Tests wird die Rechenleistung der Kinder in Prozenträngen oder T-Werten ausgedrückt. Liegt ein Prozentrang beispielsweise bei 10 bedeutet dies, dass 90% aller Kinder der Normgruppe (z. B. Kinder Ende der 2. Klasse) bessere Leistungen erbringen. Diese quantitative Beurteilung der Rechenleistung reicht jedoch nicht aus.

Manche Testverfahren erheben daher neben den Rechenleistungen zusätzlich Daten über die individuellen Fehlerquellen. Häufig können auch Aussagen über Konzentrationsfähigkeit, die Kapazitäten des Arbeitsgedächtnisses und Grundlagenkompetenzen erfasst werden. Warum diese so wichtig sind, erklärt unser Blogbeitrag Ursachen einer Rechenschwäche.

Ausschlusskriterien – Und was sonst noch wichtig ist

Fassen wir an dieser Stelle einmal zusammen: Um im Sinne der ICD-10 von einer Dyskalkulie sprechen zu können, muss ein Kind über durchschnittliche Begabungsvoraussetzungen und eine deutlich unterdurchschnittliche Rechenleistung verfügen. Gleichzeitig müssen aber auch bestimmte Ausschlusskriterien vorliegen.

Die Schule
In der ICD-10 heißt es, dass die Rechenschwierigkeiten „nicht wesentlich auf unangemessene Unterrichtung […] zurückzuführen sein“ dürfen. Wenn die Lehrkraft im Fach Mathematik z. B. innerhalb von zwei Jahren dreimal gewechselt hat oder das Kind sehr häufige Fehlzeiten hatte, können dies Gründe für Schwierigkeiten im Rechnen sein, ohne dass eine Dyskalkulie vorliegt.

Hören und Sehen
Auch darf die Dyskalkulie nicht „direkt auf Defizite im Sehen, Hören oder auf eine neurologische Störung zurückzuführen sein“. Das bedeutet, bei dem Kind sollte ein nicht zu weit zurückliegender Seh- und Hörtest durchgeführt worden sein. Und es sollte ebenso abgeklärt sein, dass nicht, z. B. durch einen Unfall, neurologische Störungen vorliegen. Hierfür sind zunächst der Kinderarzt oder – bei einem begründeten Verdacht – eine neurologische Praxis die richtige Ansprechstelle.

Das außerschulische Umfeld
Viele Eltern gehören zu den Paaren, die beide berufstätig sind und häufig nicht die Zeit haben, jeden Nachmittag mit ihrem Kind zwei Stunden an den Hausaufgaben zu sitzen. Auch gibt es viele belastende Situationen für ein Kind (z. B. Tod, Scheidung), die dazu führen, dass es in der Schule absackt. Und auch die sozial-emotionale Entwicklung des Kindes beeinflusst das Lernen. Hat das Kind mittlerweile ein gewisses Maß an Frustrationstoleranz erworben? Ist es sehr perfektionistisch oder entwickelt es schnell Ängste, wenn ihm etwas nicht auf Anhieb gelingt?

Das Anamnese-Gespräch
Um all diese Punkte zu berücksichtigen, gehört zu einer Dyskalkulie-Diagnostik immer eine Anamnese. Diese erhebt die frühkindliche und schulische Entwicklung des Kindes, Krankheiten, Beobachtungen der Eltern u.Ä..

Für eine tiefer gehende Beschäftigung mit dem Thema empfiehlt sich die Lektüre der Werke von Frau Prof. Gabriele Ricken, die schon lange zu dem Thema forscht oder der praxisnahe Band von Armin Born und Claudia Oehler zur erfolgreichen Förderung von rechenschwachen Kindern.

Wir hoffen, dieser Beitrag konnte Ihnen die komplexen Zusammenhänge der Dyskalkulie-Diagnostik etwas näher bringen.

Es grüßen herzlich,

Ihre Susanne Keßler & Jennifer Bubolz

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