Wenn eine Lese-Rechtschreibschwäche und AD(H)S zusammen auftreten – ein Erfahrungsbericht

 

In 18–24% (manche Studien sprechen sogar von bis zu 30%) aller Fälle treten eine Lese-Rechtschreibschwäche und eine AD(H)S zusammen auf.
Die Abkürzung ADHS steht dabei für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Hauptsymptom einer ADHS ist eine mangelhafte Verarbeitung von Informationen, die zu Leistungs- und Verhaltensauffälligkeiten führen. Auffälligkeiten zeigen sich in der Regel durch Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität.
Diese Störung tritt in einigen Fällen auch ohne das Merkmal der Hyperaktivität auf, dann spricht man von einer ADS.
Bei jedem Kind sind die Ausprägung und die Symptome jedoch sehr individuell.

Detaillierte Informationen zu Symptomen, Ursachen und der Behandlung finden Sie u. a. auf den Seiten des ADHS Deutschland e.V. oder der Bundesarbeitsgemeinschaft zur Förderung von Kindern mit Teilleistungs-/ und Wahrnehmungsstörungen e.V. .

Auch am I.D.L.-Lerntraining nimmt das eine oder andere Kind teil, das nicht nur seine LRS, sondern auch noch eine AD(H)S zu schultern hat.
Wie lebt es sich mit den Diagnosen LRS und AD(H)S? Was bedeutet das für den Alltag der betroffenen Familien? Gibt es etwas, das hilft, diese oft schwierige Situation besser zu meistern?
Wir haben zu diesen Fragen ein Interview mit Familie A. aus Bochum geführt. Eine Zusammenfassung lesen Sie hier:

Erste Anzeichen im Kindergarten

Rückblickend betrachtet zeige Malte* bereits im Kindergarten erste Anzeichen einer AD(H)S, berichtet Frau A. Ihn reizten spezielle Themen wie Körper- und Knochenaufbau, in die er sich völlig vertiefen konnte. Für Themen, für die er wenig Interesse aufbrachte, fehlte hingegen jegliche Ausdauer. Das freie Konzept der Kita mit offenen Gruppen machte es Malte leicht, nur seinen Vorlieben nachzugehen ohne dabei auffällig zu werden.
Die Bindung zur Mutter war und bleibt sehr ausgeprägt, Freundschaften zu knüpfen fällt ihm dabei allerdings schwer. Auch sein sehr quirliges Wesen fällt nicht weiter ins Auge, da die Familie viel im Freien unterwegs ist, Radtoren unternimmt und viel Zeit in ihrem großen Garten verbringt. Zuhause kann Malte sehr konzentriert Spielzeuge auseinanderbauen, weil er verstehen will, wie sie funktionieren. Nur sind sie danach nur noch selten zu gebrauchen.

Grundschulzeit und Diagnose ADS in der Kinderklinik

Wirklich auffällig wird Maltes Verhalten dann in der Grundschule. Die Mutter stellt schnell fest, „Hier stimmt etwas ganz und gar nicht.“ Die Hausaufgaben, obwohl vom Pensum immer ähnlich, dauern manchmal nur zehn Minuten, an anderen Tagen sitzen Mutter und Sohn jedoch zwei Stunden daran. In der Schule verhält es sich ähnlich. Ist Malte mit seinen Aufgaben in zehn Minuten fertig, stört er die restliche Zeit den Unterricht. Es fällt ihm schwer, sich an vereinbarte Regeln zu halten, wie sie u. a. im Sportunterricht gefordert sind. Druck verschlimmert die Situation nur. Auch auffällig ist sein mangelndes Zeitgefühl, sodass er manchmal völlig in einer Aufgabe versinkt und dabei ganz vergisst, dass er mit seiner Mutter zuvor etwas anderes vereinbart hat.

Familie A. entscheidet daher bereits in der ersten Klasse Maltes Verhaltensauffälligkeiten professionell abklären zu lassen. In der Kinderklinik in Bochum wird eine ADS mit einer Schilddrüsenunterfunktion diagnostiziert. Malte wird daraufhin medikamentös eingestellt.

Leben mit Medikamenten

Heute gibt es Tage, an denen Malte reibungslos „funktioniert“, jedoch „eher wie ein Roboter und weniger wie ein Kind wirkt“, so Frau A. „Er sagt, mir geht es gut, dabei wirkt er völlig apathisch“, erzählt Frau A. weiter.

In der Schule kann sich Malte, seit er Medikamente bekommt, besser konzentrieren und sich den geforderten Regeln besser anpassen. Gleichzeitig führen die Medikamente zu einem zunehmenden Rückzug, sodass Malte mündlich kaum noch mitarbeitet. Die Sorge, auffällig zu sein, sein Ich-darf-nicht-stören im Kopf, lassen ihn nach Ansicht der Mutter zurückhaltend werden. Frau A. formuliert es so: „Malte war ein Wirbel, nach den Medikamenten wurde er ein Träumerlieschen.“
Malte nimmt die Medikamente morgens ein. Sie wirken so die gesamte Schulzeit bis in den Nachmittag. Hausaufgaben und die eine oder andere Aktivität fallen damit noch in die Zeit der medikamentösen Wirkung. Danach beginnt das Ausschleichen und somit eine oftmals wenig entspannte Zeit in den Abendstunden zuhause.

Frau A. beschreibt die ADS als „ein Radio, einen Fernseher und ganz viele Stimmen gleichzeitig im Kopf“. Die Medikamente könnten hier wie ein Trichter wirken, der immer nur einen der Reize ankommen ließe. Dabei sind besonders gesellschaftliche Anlässe schwierig, wo neben der ohnehin vorherrschenden Unruhe im Kopf noch zusätzlich viele Gespräche und Eindrücke hinzukommen. Gruppenarbeiten in der Schule sind ebenfalls ein rotes Tuch.
Als positiv erlebt die Mutter allerdings alle Maßnahmen, die in Eins-zu-Eins-Settings stattfinden. Sei es die Hausaufgabenhilfe, die Lerntherapie, die Motopädie oder ähnliches. Hier hole sich Malte die Ruhe und Aufmerksamkeit, die er brauche, um zu lernen ohne zu gehemmt von den Medikamenten zu sein oder zu überfordert von den vielen Reizen, die sein Gehirn nicht sortiert bekommt.

Wechsel zur weiterführenden Schule und die Diagnose LRS

Aufgrund seiner hohen Intelligenz bekommt Malte die Empfehlung für das Gymnasium. Seine Eltern entscheiden sich für den Wechsel zur Gemeinschaftsschule.

Zu der Zeit fällt auch der Familientherapeutin auf, dass mit Malte Rechtschreibleistungen irgendwas nicht stimmt. Er fährt auch in der fünften Klasse noch mit dem Finger die Sätze nach, die er liest. Für das Abschreiben von Texten braucht er auffallend lange. Frau A. hatte diese Beobachtungen immer mit Maltes Aufmerksamkeitsproblematik in Zusammenhang gebracht und daher nicht weiter verfolgt. Ein Test bringt Klarheit: Malte hat eine Lese-Rechtschreibstörung.
Seit einem knappen Jahr nimmt Malte bei I.D.L. an einer LRS-Therapie teil und zeigt Erfolge beim Lesen und Schreiben. Das Einzeltraining tut ihm sichtlich gut.
Die Lerntrainerin Frau Lissi beschreibt ihn als aufgewecktes, lernwilliges und lernhungriges Kind. Er genießt die Zweisamkeit, die alleinige Aufmerksamkeit, die Ruhe und positive Zuwendung. „Die erreichten Erfolge lassen sich noch nicht alle in seinen Alltag transportieren, dennoch weiß er nun, was er leisten kann […]und das ist so viel mehr als nur der Störenfried der Klasse zu sein! Wir sind auf einem guten Weg, Malte kann die Lernstrategien und Hilfestellungen gut annehmen.“

Was in schwierigen Zeiten hilft

Das Leben mit einer AD(H)S und einer zusätzlichen Lese- Rechtschreibschwäche bringt sowohl Kinder als auch ihre Eltern immer wieder an ihre Grenzen.
Dennoch macht jede Familie Erfahrungen damit, was in diesen schwierigen Zeiten helfen kann und wie sich ein Leben mit AD(H)S meistern lässt.
In bestimmten Fällen, wenn die Belastung sehr groß wird, gewähren einige Krankenkasse z.B. eine Haushaltshilfe zur Entlastung.
Im Interview wird deutlich: Auch Eltern brauchen dringend Unterstützung, wenn ihr Kind unter einer AD(H)S leidet. Familie A. hat daher eine Familientherapeutin, die die Belastungen mit auffängt.
Auch eine Selbsthilfegruppe kann in einer solchen Situation eine große Unterstützung sein, wenn dafür die Zeitfenster geschaffen werden können.

Frau A. macht immer wieder die Erfahrung, dass Malte auf Druck nur mit Gegenwehr reagiert. „Mit Liebe konnte ich immer mehr erreichen“.

Familie A. weiß mittlerweile, dass viel nicht immer viel hilft. Jeden Tag nach der Schule entweder zum Sport, zur Logopädie, zur Motopädie zu gehen, führt eher zu einer zunehmenden Überforderung. Klare und überschaubare Strukturen sind hier hilfreicher.

Frau A. erzählt, dass es ihr auch immer wieder geholfen habe, mehr zu erfahren, zu den Ursachen, dazu wie das mit der Aufmerksamkeit funktioniert. Das eigene Kind besser verstehen zu können, könne helfen, die manchmal schwer nachvollziehbaren Verhaltensweisen in einem anderen Licht zu sehen und eben mit mehr Liebe zu reagieren.
Wir danken Frau A. ganz herzlich für dieses offene Gespräch und für ihre Bereitschaft, ihre Erfahrungen mit anderen betroffenen Eltern zu teilen.

*Name geändert

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